Der Kolibri - Premio Strega 2020: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Der Kolibri - Premio Strega 2020: Roman' von Sandro Veronesi
3.65
3.7 von 5 (3 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Der Kolibri - Premio Strega 2020: Roman"

„Meisterhaft: ein Kuriositäten- und Genusskabinett voller kleiner Wunder“ Ian McEwan. „Unkonventionell, entwaffnend und zutiefst menschlich. ‚Der Kolibri‘ ist eine neue Art der Familiensaga.“ Jhumpa Lahiri Ein Schock, der heftigste vielleicht in einem an Schocks reichen Leben: Vom Psychoanalytiker seiner Frau erfährt der Augenarzt Marco Carrera, dass sie ihn wegen eines deutschen Piloten verlassen werde, von dem sie schwanger ist. Damit beginnt Sandro Veronesis mit dem Premio Strega ausgezeichneter Roman „Der Kolibri“. Auf psychologisch raffinierte Weise erzählt er darin von einer Achterbahn der Gefühle, die das Schicksal dieses sensiblen Mannes prägen, von unvergleichlichen Charakteren, denen er auf dem Tennisplatz oder am Spieltisch begegnet, von familiärem Unglück und von einer großen, lebenslänglichen Liebe … Marcos Dasein gleicht dabei dem eines Kolibris: Auf der Suche nach Ruhe ist er ständig in Bewegung.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:352
Verlag:
EAN:9783552072527

Rezensionen zu "Der Kolibri - Premio Strega 2020: Roman"

  1. Eine Farce. Oder Opera buffa.

    Kurzmeinung: Ich kann nur allzu gut verstehen, warum viele Leser nur einen einzigen Stern am Lesehimmel erscheinen sahen bei der Leküre dieses Romans.

    Um diesen Roman in angemessener Weise zu besprechen, muss man das Pferd von hinten aufzäumen: Im Nachwort stößt Veronesi denjenigen Leser, der es nicht sowie so längst geahnt hat, (endlich) mit der Nase drauf, was er in seinem mit dem Premio Strega 2020 ausgezeichneten Roman „Der Kolibri“ gemacht hat beziehungsweise, was er aus seinem Roman gemacht hat: nämlich eine komische Oper, opera buffa.

    Wie hat Veronesi das gemacht?
    Der Autor bringt in seinem Roman, nur vordergründig eine Art Familiensaga, die in unmotivierter, sprich unnötig sprunghafter, um nicht zu sagen in wirrer Chronologie präsentiert wird, eine Vielzahl an von ihm goutierter Songs, Zitate und Textpassagen anderer Autoren unter, womit er ihnen Referenz erweist, denn sie sind heute weitgehend unbekannt.

    „Der Kolibri“ ist also eine Hommage an Autoren, die Veronesis Meinung nach, nicht in der völligen Bedeutungslosigkeit oder im Meer des Vergessens versinken sollten. Das darunter bekannteste Roman-Motiv ist der Song „Gloomy Sunday“ von Reszö Seress (Musik) und László Jávor (Text).

    Ohne Zweifel ist Sandro Veronesi ein überaus belesener und gebildeter Autor und ich würde seinen Roman mehr würdigen, wenn er nicht mit einem Nachwort, sondern mit Fußnoten gearbeitet hätte. Vielleicht.

    Die Story, als Familiensaga verkleidet, ist durchgeknallt. Unglaubhaft. Eine Farce eben. Opera Buffa. Dazu passen die zahlreichen Einfälle des Autors, zum Beispiel das Märchen mit dem Faden im Rücken. Einen Mangel an Originalität kann man dem Autor nicht vorwerfen. Vieles andere. Wahrlich. Aber das nicht.

    Der Held, Marco Carrera, von vornherein als Opfer aufgestellt, ist der große Dulder des Romans. Der Protagonist wickelt nicht nur ohne Hilfe seines einzigen Bruders, den komplizierten Nachlass seiner Eltern ab, er betreut diese auch im langwierigen Sterbeprozeß. Schon vorher war er der Fels in der Brandung im hauseigenen Familientrauma, dem Suizid seiner Schwester Irene.

    Das sind nicht die einzigen Aufgaben Carreras Er kümmert sich rührend um seine verhaltensgestörte Tochter und zieht schließlich auch seine Enkelin auf, die ihm sozusagen als „der neuer Mensch“ in die Arme gelegt wird.

    Die Erklärungen des Romans für Marco Carreras Dulderdasein, sind, milde gesagt, spinös. Marcos Leben besteht aus eine Reihe von Schicksalsschlägen, nostalgischen Anwandlungen, seltsamen Freunden und Leidenschaften, spinnerten Ausführungen über das Sehen und Gesehen werden, etc. etc. Aber seis drum. Halten wir uns nicht damit auf.

    Innerhalb der überkonstruierten Handlung, Veronesi muss schon einige Volten schlagen, damit sich ein einigermaßen brauchbarer Text ergibt , erlaubt sich der Autor heftige Hiebe gegen die zeitgeistige Mode, sich bei jedem Mückenschiss des Lebens auf die Psychiatercouch zu legen und gipfelt schließlich, - für mich der unrühmliche Höhepunkt eines unrühmlichen Romans, in einer wilden Wutrede über den „neuen Menschen“, sprich über den unoriginellen Influencer unserer Zeiten, der nur imitiert, aber nichts Eigenes besitzt, der durch Blendung und Verführung reich wird und sogar den Tod noch als Schauspiel für seine Zwecke inszeniert, also tatsächlich in Szene setzt und womöglich noch vermarktet.

    Die Kritik am „neuen Menschen“ hätte den Roman herausgerissen aus seiner Künstlichkeit oder sie wenigstens gerechtfertigt, doch liegt sie so verklausuliert oder auch verklebt im ganzen Rest des Romans, dass der unbedarfte Leser es schwer hat, sie als das Wesentliche zu erkennen, mit anderen Worten: sie kommt zu spät.

    Sprachlich ist der Roman sperrig. Was nicht dazu beiträgt, dass er bei mir Punkte sammeln könnte.

    Fazit: „Der Kolibri“ ist ein Kunstroman, der an Künstlichkeit kaum zu überbieten ist. Ein Roman, der eine Farce auf den Familienroman darstellt und natürlich deshalb genial sein könnte, es aber nicht ist. Überkonstruiert, langweilig, borniert? Diese Wertung liegt im Auge des Betrachters. Mein Roman ist das nicht.

    Die Idee der Verkleidung (als Familienroman) ist aber sicherlich drei Sterne wert und ich kann, obwohl ich selber den Roman nicht mag, trotzdem nachvollziehen, warum die italienische Jury nicht den Roman an sich, dessen Lektüre wahrlich kein Lesevergnügen bereitet, sondern die Idee dahinter auszeichnete.

    Kategorie: Belletristik
    Verlag: Paul Zsolnay, 2021

    Preisträger des Premio Strega, 2020

  1. 4
    06. Sep 2021 

    Faszinierende, hoch komplexe Geschichte

    Sandro Veronesi, einer der bedeutendsten Schriftsteller Italiens, hat schon einmal den Premio Strega, den wichtigsten Literaturpreis Italiens, erhalten , und zwar 2006 für seinen Roman „ Stilles Chaos“. 2020 wurde er für den vorliegenden Roman zum zweiten Mal mit diesem Preis ausgezeichnet.
    „Der Kolibri“ ist ein ungewöhnlich erzählter und virtuos aufgebauter Familienroman. Im Zentrum steht der Augenarzt Marco Carrera, 1959 geboren ( wie sein Autor ), aufgewachsen mit zwei Geschwistern in einer gut situierten Florenzer Architektenfamilie.
    Als Kind war Marco ungewöhnlich klein und zartgliedrig und wurde deshalb von seiner Mutter liebevoll „ Kolibri“ genannt. Eine im Teenageralter angewandte Hormonkur ließ ihn innerhalb einiger Monate um 16 Zentimeter wachsen. Marco war ein talentierter Skifahrer und Tennisspieler ( auch das verbindet ihn mit seinem Schöpfer).
    Er verliebt sich jung in die Nachbarstochter Luisa. Eine Liebe, die ein Leben lang hält, aber unerfüllt bleibt.
    Mit Ende Zwanzig trifft er die slowenische Flugbegleiterin Marina, die beiden heiraten und bekommen eine Tochter, Adele.
    Gleich zu Beginn des Romans erfährt der mittlerweile 40jährige Marco Carrera vom Psychoanalytiker seiner Frau, dass ihn diese betrügt und dass sie ein Kind erwartet, allerdings von einem anderen Mann. Die Ehe mit der psychisch labilen Marina endet in einem Rosenkrieg.
    Aber das ist nicht der einzige Schicksalsschlag, den unser Protagonist erleiden muss. Wie ein moderner Hiob erlebt er immer wieder Kummer und Leid.
    Seine geliebte ältere Schwester Irene beendet selbst ihr Leben. Die ganze Familie macht sich Vorwürfe, die Anzeichen nicht richtig gedeutet zu haben.
    Später wird Carrera seine Eltern auf ihrem krankheitsbedingten Leidensweg begleiten. Beide sterben innerhalb kürzester Zeit hintereinander.
    Doch das wird nicht alles sein, was das Leben an Grausamen für ihn bereithält.
    Das Glück seines Alters wird seine Enkelin Miraijin sein.
    Sandro Veronesi hat mit Marco Carrera einen Helden geschaffen, der trotz allem Unglück nicht verbittert sondern weitermacht. Dazu passt das Zitat von Samuel Beckett, das als Motto dem Roman voransteht: „ Ich kann nicht weitermachen. Ich mache weiter.“
    Er bleibt sich selbst treu, flüchtet nicht vor der Verantwortung, wie es viele tun, sondern hält Stand und kümmert sich.
    „ Keiner versteht es wie Du, standhaft durchzuhalten, aber keiner versteht es auch wie Du, sich der Veränderung zu entziehen,… Du bist ein Kolibri, weil Du wie die Kolibris deine ganze Energie dafür verwendest, auf der Stelle zu bleiben.“ Das schreibt ihm Luisa in einem ihrer Briefe.
    Nicht nur die Figur ist außergewöhnlich, sondern v.a. die Art des Erzählens. Sandro Veronesi hält sich an keine Chronologie. Das Buch ist aufgebaut wie ein Puzzle, das sich dem Leser langsam erschließt. Das macht die Lektüre nicht einfach. Hilfreich ist deshalb, dass jedem Kapitel die Jahreszahl vorangestellt ist.
    Dabei wechselt der Autor nicht nur die Zeitebenen, sondern auch die Erzählformen. Lange epische Passagen wechseln mit Dialogen, E- Mails, Briefen Telefonanrufen, Gedichten und Inventarlisten. So führt z.B. Marco in einem Brief an seinen jüngeren Bruder ( der nie beantwortet werden wird wie alle Briefe an den Bruder ) eine Bestandsliste aller vom Vater gesammelten Urania- Romane (Science Fiction ) auf. Anhand der wenigen fehlenden Bände werden wichtige Geschehnisse innerhalb der Familie erklärt.
    Die Sprache des Romans ist präzise und zugleich poetisch. Viele kluge Sätze lassen innehalten und nachdenken.
    Das Buch greift eine Menge verschiedene Themen auf - es geht um Bindungen unterschiedlichster Art, um die Höhen und Tiefen des Lebens, um die Frage nach Schicksal oder Zufall und vieles mehr.
    Lediglich das Ende hat meinen positiven Leseeindruck geschmälert. Hier driftet der Autor ins Esoterische oder Fantasyhafte ab. Das Enkelkind ist zu perfekt, um realistisch zu sein. Es verkörpert mehr eine Idee als eine reale Figur.
    Trotzdem kann ich den Roman nur empfehlen. In ihm steckt eine faszinierende, hoch komplexe Geschichte mit facettenreichen und unvergesslichen Charakteren. Sandro Veronesi ist ein Erzähler auf höchstem Niveau.

  1. 4
    27. Aug 2021 

    Lesenswert!

    In dem Roman „Der Kolibri“ erzählt Sandro Veronesi die Lebensgeschichte von Marco Carrera, den die Mutter in seinen Jugendjahren liebevoll Kolibri genannt hat. Es lag vor allem daran, dass Marco viel zu klein für sein Alter war, aber auch an seiner Schnelligkeit und Schönheit, die diese Assoziation in der Mutter weckten.

    Die kleinen Kolibris wurden wegen ihrer Fähigkeiten als „Akrobaten der Lüfte“ genannt. In seinem ereignisreichen Leben musste Marco oft beweisen, dass auch er diese Fähigkeiten besitzt. In der Geschichte seines Lebens gibt es viel Glück, aber wahrscheinlich noch mehr Leid; viele tragische Ereignisse, die jeden normalen Menschen mit ihrer Last erdrücken könnten.

    Marcos bewegter Lebensweg wurde in kurzen Kapiteln erfasst, jeder von ihnen mit dem Titel und der entsprechenden Jahreszahl versehen. Denn die Erzählung erfolgt nicht chronologisch; das Ereignis selbst und seine Bedeutung sind dem Autor wichtiger. Und so kommt es, dass ich zuerst über Einiges aus der Zukunft erfahre und mich dann in die Vergangenheit begeben muss, um das Geschehene richtig verstehen zu können.

    Auch die Sprache hat einiges von mir verlangt; mal erzählt der Autor viel und schnell, so als würde er alles auf einmal erzählen wollen. An diesen Stellen hatte ich das Gefühl jemandem zuzuhören, der mir was Wichtiges, Dramatisches, sofort und jetzt erzählen muss. Dann wieder bedient er sich einer ruhigen, fast poetischen Sprache, und da lässt er mich zu Atem kommen, das Gelesene genießen, miterleben.

    Es gibt in dem Roman viele gefühlvolle Momente, Kapitel, die zum Nachdenken bewegen, Ereignisse, die auf Tränendrüsen drücken. Es ist ein bemerkenswertes Buch!

    Zum Schluss erlaube ich mir die Worte des Autors über das Buch von David Leavitt, im Kapitel „Via Crucis“ erwähnt, zu zitieren:
    „Er ist wunderbar; lesen Sie ihn oder lesen Sie ihn wieder.“ (343)
    Der Satz entspricht auch voll und ganz meiner Empfehlung zum Roman von Sandro Veronesi.